Globus

24.000 objekte aus allen regionen der welt

ethnologie heute: eine fachdisziplin wirft einen kritischen blick auf die eigene geschichte und definiert neue wege im umgang mit historischen und kolonialen sammlungen.

Die ethnologische Sammlung setzt sich insgesamt aus über 1200 Einzelkonvoluten zusammen, die von über 700 Einzelpersonen in die Sammlung übergeben wurden, manche als Einzelstücke, andere als sehr umfangreiche Sammlungen. Sie ist dementsprechend heterogen aufgestellt, sowohl was die regionale Herkunft der Objekte betrifft als auch deren Bedeutung, Verwendung, Funktion, Materialität, Herstellungszeitpunkt und Erhaltungszustand. Alle Objekte sind dadurch verbunden, dass sie von sammelnden Personen zu einer als fremd wahrgenommenen Kultur zugehörig eingeordneten wurden. Jede Ordnung oder Kategorisierung ist schwierig, da sie auf Kriterien beruht, die von außen an die kulturellen Gegenstände herangetragen wurden. Sie werden den Objekten in ihrer Einzigartigkeit und Komplexität nicht gerecht – sie sind Gebrauchsgegenstand, religiöses Objekt, Prestigeobjekt, Kunstwerk, Waffe oder Souvenir, und oftmals vieles davon gleichzeitig, je nach dem von welchem Blickwinkel aus sie betrachtet werden oder in welcher Beziehung die betrachtende Person zu ihnen steht. Eine der wichtigsten Funktionen ethnologischer Sammlungen kann daher sein, den Blick der betrachtenden Person für neue Perspektiven zu öffnen.

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beispiele aus der sammlung

Grabkranz Peki, Ghana, 2018, Plastik, hergestellt von Belinda Dei; gekauft von Isabel Bredenbröker in Peki, Ghana, 2018; Schenkung Isabel Bredenbröker, 2022, Inv.-Nr. ET 22941

Bei Beerdigungen in Peki, Ghana vermitteln synthetische Stoffe und Verpackungen in Kombination mit Dingen aus lokaler Handwerkstradition Respekt für die Toten, moralische Angemessenheit und Langlebigkeit im Jenseits. Am Grab werden in glitzernde Folie verpackte Grabkränze abgelegt, die Frauen wie Belinda Dei aus Cellophan und Geschenkbändern kunstvoll herstellen. Nicht umsonst sagt man Plastik sei »unsterblich«. Während ihrer Forschung zu Praktiken rund um den Tod in Peki im Jahr 2018 lernte die Sozial- und Kulturanthropologin Isabel Bredenbröker von einer Bestatterin, wie man Tote angemessen zur letzten Ruhe bettet und nach welchen Kriterien man neue Gräber nachhaltig und angemessen schmückt. Dabei spielten Objekte und Materialität eine zentrale Rolle. Die ethnologische Sammlung beherbergt auch Objekte aus synthetischen Materialen, die in globalen Handelskontexten produziert und zirkuliert und in rezenten Forschungen erworben werden, wie diesen Grabkranz.

Herstellerin Belinda Dei und Sozial- und Kulturanthropologin Isabel Bredenbröker im Verkaufsgespräch zum Grabkranz, Peki, Ghana, 2018. Unverarbeitetes Filmmaterial aus »Now I Am Dead«, Digitaler Film von Phila Bergmann und Isabel Bredenbröker, 2019.

 

Hixkaryana, Brasilien, vor 1980, Pflanzenfaser (Baumwolle, Tucum (Astrocaryum vulgare) und Paxiuba Palme (Iriartea exorrhiza)), Federn (Scharlachara (Ara macao)), Knochen (Affe), Ankauf FUNAI (Fundação Nacional do Índio) 1980; Ankauf Hans Becher 1980, Inv.-Nr. ET 13352

Die Brasiliensammlung bildet mit 1470 Objekten einen regionalen Schwerpunkt der ethnologischen Sammlung. Einige Stücke kamen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Sammlung (u.a. über Koch-Grünberg), der größte Teil der Brasiliensammlung geht jedoch auf den Ethnologen und Amerikanisten Hans Becher zurück, der 1961 bis 1983 als Kurator am Landesmuseum tätig war. Während mehrerer Forschungsreisen erwarb Hans Becher 1955/56, 1966, 1970 und 1980 Objekte bei verschiedenen Yanomami-Gruppen des mittleren Rio-Negro-Gebiets Brasiliens. Diese Sammlung erweiterte er durch Ankäufe, etwa von in Brasilien missionarisch tätigen Franziskanerpatern. Becher praktizierte einen paternalistischen, rettungsethnologischen Ansatz, der sich dafür einsetzte, indigene Gruppen vor externem Einfluss abzuschirmen und gleichzeitig deren materielle Kultur durch Anhäufung in musealen Sammlungen vor dem vermeintlichen Verschwinden zu bewahren, und geriet damit in die Kritik innerhalb der Fachgesellschaft.

Schlüsselbund, China, vor 1885, Messing, Schenkung Meyer, Inv.-Nr. ET 1557 a-e

Dieser Schlüsselbund wurde der Sammlung von einer Person geschenkt, die als „Ingenieur Meyer“ dokumentiert wurde. Als Ingenieur interessierte sich Meyer für Aufbau und Funktionsweise von Systemen, und er fertigte detaillierte, maßstabgetreue technische Zeichnungen an, die in der ethnologischen Sammlung erhalten sind. 1881 dokumentierte er in Deli Aufbau und Funktion eines Sperrfederschloss, das er als „Chinesisches Hangschloss“ bezeichnete. Solche Schlösser werden wie Vorhängeschlösser verwendet. In der ethnologischen Sammlung gibt es zahlreiche Modelle, Anschauungsobjekte und Fertigungsreihen. Sie dokumentieren ein Interesse daran, wie Dinge hergestellt wurden, aufgebaut sind und im Inneren funktionieren. Sie können uns heute zeigen, welches technische Wissen und welche Fertigkeiten Menschen beherrschen und anwenden.

Skizze von Ingenieur Meyer zu Aufbau und Funktion des Schlosses

Haube für Adler, Przěwalsk, Kirgistan, Zentralasien, vor 1900, Leder, angekauft von Georg von Almácy (auch György Almásy), 1925, Inv.-Nr. ET 6655

Das große Gebiet Zentralasiens ist für eine besondere Mensch-Tier Beziehung bekannt: die Beizjagd. Dabei nutzen Menschen speziell trainierte Greifvögel, um auf Wildtiere Jagd zu machen. Erfolgreiche Jagdvögel, insbesondere Adler, sind wertvoll und geschätzt. Bei Bedarf werden die Vögeln mit Hauben, die über ihren Kopf gestülpt werden und die Augen bedecken, ruhiggestellt. Die Hauben werden jedem Vogel individuell angepasst. Vögel reagieren zu Beginn panisch und müssen das Ertragen der Haube erst lernen. Die Hauben werden daher im Sinne des Tierschutzes kritisiert. Georg von Almácy reiste als Ornithologe nach Zentralasien und Kirgistan. Im Juli 1900 besuchte er Przěwalsk (heute Karakol), wo er in den Besitz dieser Haube kam. Im Oktober desselben Jahres studierte er die Beizjagd ausführlich. Wie diese Haube dokumentieren zahlreiche Objekte der Sammlung die vielfältigen Verbindungen zwischen Menschen und Tieren: gegenseitige Abhängigkeiten, Wertschätzung, Nutzbarmachung und Unterwerfung.

Forschungsdokumentation Godula Kosack Mafa, Kamerun, 1981-2017, diverse Materialien (Objektsammlung, Notizbücher, Audio- und Mini-DV Kassetten, Fotoabzüge, Dias), Schenkung Godula Kosack, 2017, Inv.-Nr. ET 21401, ET 21393, ET 21396

Die deutsche Ethnologin Godula Kosack arbeitete seit 1981 mehrere Jahre in Nordkamerun mit und über dort lebende Mafa. Sie interessierte sich dabei besonders für die Lebenswelt der Frauen sowie religiöse Praktiken und Weltvorstellungen. Ihre Erlebnisse und Erkenntnisse dokumentierte Godula Kosack in Notizbüchern sowie in Foto-, Film- und Audioaufnahmen, die sie zusammen mit einer umfangreichen Objektsammlung 2017 dem Landesmuseum übergab. Godula Kosack veröffentlichte später mehrere Bücher, in denen sie die während der Forschung gewonnenen Daten verarbeitete. In den originalen Forschungsdokumenten sind jedoch viele Aspekte, Details und Hintergründe dokumentiert, die weit über die publizierten Informationen hinausgehen und die einen tieferen Einblick in die Forschungssituation und die Leben der daran beteiligten Menschen ermöglichen.

Gebäudekonstruktion und Körbe, Nordkamerun, undatiert

Korbflechterin der Mafa, Nordkamerun, 2000

Chitenje (bedruckter Baumwollstoff), Malawi, 1986, Baumwolle, Farbstoff, produziert bei Whitex Fabrics, 1986; Besitz Lore Henkel; vererbt an Silvia Hesse, 2018; Schenkung Silvia Hesse, 2019, Inv.-Nr. ET 22041

Bedruckte Baumwollstoffe werden auf dem gesamten afrikanischen Kontinent auf zahlreiche Arten verwendet: Ganze Stoffbahnen werden in kunstvollen Wickel- und Knottechniken als Kleidung getragen, aus ihnen werden Kleidungsstücke geschneidert und sie werden als Decken, Trage- und Tischtücher benutzt. Es gibt sie in unzähligen Mustern und Designs und anlässlich wichtiger gesellschaftlicher und politischer Ereignisse werden oft spezielle Gedenkstoffe entworfen. In Malawi werden diese Stoffe Chitenje genannt und unter anderem bei Mapeto DWSM Ltd in Blantyre produziert. Dieses Exemplar wurde anlässlich der Einweihung des Bürgerzentrums in Blantyre 1986 bei Whitex Fabrics designt und von dort durch Lore Henkel nach Hannover gebracht. Lore Henkel engagierte sich zeitlebens für die Verbindungen zwischen Hannover und Blantyre und trug wesentlich zur Gründung der Städtepartnerschaft 1968 bei. Wie dieser Chitenje zeugen auch andere Objekte in der Sammlung von Reisen und Verbindungen hannöverscher Bürger*innen in die Welt.

»Picturesque New Britain. Selected Photographs of a Delightful Country and its Very Interesting People« by John H. Margetts, Rabaul (?), nach 1900, Album mit 101 schwarz/weiß Abzügen auf Albuminpapier, undokumentierter Objekteingang

Dieses Album mit 101 Fotoabzügen zeigt, wie der Titel verspricht, Landschaften und Menschen der Insel Neubritannien, die heute zu Papua-Neuguinea gehört. John Harold Margetts, ein in England geborener methodistischer Missionar, war ab 1913 im damaligen Deutsch-Neuguinea stationiert. Er lädt zu einem Gang über die Insel ein: Neben Häusern, Wegen, Stränden, Plantagen, Waldgebieten und Flussläufen zeigt er mit einem ethnografischen Blick Tanzgruppen, bedeutende Masken sowie Maskentänzer und Musiker. Weitere Aufnahmen zeigen Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten wie etwa dem Decken eines Daches und geben Einblick in Szenen des Missionslebens. In seinen Fotografien inszeniert Margetts eine imaginierte Lebenswelt: paradiesische Landschaften, in denen Menschen ein Leben praktizieren, das ethnologisch interessant, aber durch Mission und Kolonialverwaltung zu zivilisieren ist. Eine Geschichte, die mehr über den Autor und sein Publikum erzählt als über die Lebensrealität der Porträtierten.

»Decken des Dachs«

»Eine neue Kirche«

»‘DukDuk‘ Parade«

Reparierte Porzellankanne, Pakistan, vor 1973, Porzellan, polychrome Bemalung, Messing, Aluminium, Baumwolle, Kittmasse, hergestellt vermutlich in der Manufaktur Gardener, Verbliki bei Moskau; gekauft von Hans-Hermann Schmitz in Chitrāl, Nordpakistan, 1973; Schenkung Hans-Hermann Schmitz, 2017, Inv.-Nr. ET 22250

Diese kleine Kanne mit bunten, floralen Mustern fällt durch die an ihr vorgenommenen Reparaturen auf.  Als das empfindliche Porzellan zerbrach, nahm sich ein professioneller Porzellanflicker dem versehrten Stück an. In die einzelnen Bruchstücke wurden vorsichtig Löcher gebohrt und Metallklammern eingesetzt, um die Scherben zusammenzufügen. Anschließend wurden die Fugen mit Kittmasse ausgestrichen, um das Gefäß abzudichten. Diese Technik wurde schon im 17. Jahrhundert in China angewandt und früher auch in Europa praktiziert. Der Beruf des Geschirrflickers wird heute in Afghanistan und angrenzenden Ländern praktiziert. An dieser Kanne zeigt sich die große Wertschätzung gegenüber Objekten des täglichen Gebrauchs und welche Sorgfalt und Kunstfertigkeit für deren Erhalt aufgewandt wird. Wir können anhand dieser Kanne nicht nur heute kaum mehr verbreitets Wissen um diese großartigen Reparierkunst sehen, sondern uns auch zum Nachdenken über Erhalt und Wiederverwertung anregen lassen.

Yatağan, Türkei, 1780, Damaszener Stahl, Silber, Horn, gekauft von Jens Dieter Becker-Platen, Türkei, 1965/1966; vererbt an Jens Becker-Platen, Schenkung Jens Becker-Platen 2009, Inv.-Nr. ET 20021

Die Gemeinde Yatağan im Südwesten der Türkei ist bekannt für ihre Schmiedekunst, insbesondere die gleichnamigen Krummschwerte. Der Ortsname mag wiederum auf den Schmied Yatağan Baba zurückgehen, dessen Grab dort eine touristische Attraktion ist. Yatağan werden mit den Janitscharen, einer Eliteeinheiten der osmanischen Armee, in Verbindung gebracht. Typischerweise sind auf den Klingen tauschierte Inschriften eingearbeitet, meist Zitate aus dem Qur’an oder Sprichworte, sowie Namen des Handwerksmeisters oder Besitzers und Herstellungsjahr. Der Klinge dieses Yatağan ist die Jahreszahl 1194 (ca. 1780 n. Chr.) zu entnehmen. Darüber hinaus sind acht Namen zu lesen, die auf die sowohl im Islam als auch im Christentum bekannte Legende Ashâb-ı Kehf (Sieben Schläfer) verweisen. Mit dem Zusatz „Sahip ve Malik Abdullah Ağa“ wird zudem der ehemalige Besitzer dieses Yatağan genannt. Die ethnologische Sammlung umfasst, im Vergleich zu anderen Objektarten, verhältnismäßig viele Waffen, was von einem großen Sammlerinteresse an Schmiede- und Kriegskunst zeugt.

 

gut zu wissen

ausstellungen

Große Teile unserer ethnologischen Sammlung sind in unserer Dauerausstellung »MenschenWelten« zu sehen. Zu den großen ethnologischenSonderausstellungen der vergangenen Jahre zählt die Schau »Heikles Erbe. Koloniale Spuren bis in die Gegenwart« (2017).

Kleinere Kabinettausstellungen zu ethnologischen Themen zeigen wir regelmäßig in den WechselWelten (Tote leben länger (2021/22) | Flüstern in den Regalen (2022) | Perspektivwechsel (2022/23) | Kriegsbeute aus China (2023))

Eine vollständige Liste aller ethnologischen Ausstellungen (1902 – 2020) finden Sie hier zum Download.

publikationen
kulturerbeportal niedersachsen

Das Kulturerbeportal Niedersachsen ist ein gemeinsames Internetangebot von Bibliotheken, Archiven und Museen des Landes Niedersachsen. Große Teile unserer ethnologischen Sammlung sind darüber digital zugänglich.

paese

Das niedersächsische Verbundprojekt PAESE wurde 2018-22 von der VolkswagenStiftung gefördert und hat die Herkunft ausgewählter Bestände in den fünf größten ethnografischen Sammlungen in Niedersachsen gemeinsam mit Vertreter:innen aus Herkunftsregionen erforscht. Die PAESE-Datenbank diente der transparenten Dokumentation der im PAESE-Projekt erforschten Konvolute. Seit 2022 wird sie vom Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen betrieben und steht allen Einrichtungen in Niedersachsen offen.

sammlungsgut aus kolonialen kontexten

Das Portal »Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« macht bereits digitalisiertes und erschlossenes Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten innerhalb des bestehenden Portals der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) online verfügbar.

digital benin

Auf der digitalen Plattform »Digital Benin« werden die im späten 19. Jahrhundert geraubten und weltweit zerstreuten Kunstschätze aus dem Königreich Benin dokumentieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

ethnologische gesellschaft in hannover

Seit 1967 begleitet und unterstützt die Ethnologische Gesellschaft Hannover e.V. (EGH) als Freundes- und Förderkreis die Aktivitäten der Ethnologie am Landesmuseum Hannover.

heidelberger erklärung

Bei der sogenannten »Heidelberger Erklärung« handelt es sich um eine gemeinsame Stellungnahme zur Dekolonisierung, die 2019 von den Direktor*innen von 26 ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum unterzeichnet wurde. Aufgabe der Häuser sei es, ein größtmögliches Maß an Transparenz im Umgang mit der Geschichte und dem Inhalt der Sammlungen zu gewährleisten. Dialog, Expertise und Unterstützung seien dafür maßgeblich. Die gesamte Stellungnahme lesen Sie hier.

Mareike Späth
Ethnologie | Kuratorin
T + 49 (0) 511 98 07 – 819
mareike.spaeth@landesmuseum-hannover.de